Ferien in Venedig?
von Dr. Dieter Eckmann

„Venedig – das ist für mich wie früher Malefiz spielen. Sobald du einen Stein aus dem Weg geräumt hast, wird dir ein neuer vor die Nase gesetzt!“, so formulierte es unlängst ein Patient in der Querschnittsabteilung der BG Unfallklinik. Venedig, das ist für ihn passé nach seinem Unfall. Nichts mehr ist selbstverständlich und so, wie es einmal war. 

In der Tat bedeutet eine Querschnittslähmung oft das Ende des Lebens in seiner bisherigen Form. Die Auswirkungen betreffen alle Bereiche der Existenz, die körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen. Vergleichbar einer tiefen Lebenskrise, nicht vorhersehbar oder plan­bar, wie aus heiterem Himmel überfällt oder überwältigt sie den Menschen. Als Seel­sorger entdecke ich in der Begleitung immer wieder Parallelen zwischen den Phasen dieser Be­hinderungs­­­bewältigung, den Phasen der Bewältigung einer Krebsdiagnose und den Phasen des Sterbens. Interessant ist, dass der Psychologe Nikolaus Gerdes, der diese Zusammenhänge schon früh erforschte, seiner Argumentation die Anfangszeilen eines Gedichtes aus 1001 Nacht voranstellt: „Die Menschen schlafen, solange sie leben. Erst in der Todesstunde erwachen sie.“ Auch der Querschnittsgelähmte stürzt schmerzhaft aus der Welt seines bis dahin gelebten Lebens – und erwacht. Gefordert sind von jetzt an extrem große Anpassungs- und Verzichtleistungen, nämlich: sich ein neues Leben nach diesem „kleinen Tod“ überhaupt vorstellen zu können bzw. es zu wagen. 

Bereit zu sein für einen Neuanfang, das höre ich auf dieser Station fast jeden Tag. Und Sätze wie: Vieles muss ich aus der Hand geben. Ich merke meine Grenzen jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Aber ich gewinne auch etwas, ganz sacht, aus dem Verborgenen kommend: eine größere Bewusstheit für das Wesentliche. 

Ferien in Venedig, das ist für die meisten wirklich nicht mehr wichtig, dafür aber viel mehr und viel anderes: die zum Teil neuen sozialen Kontakte, die Beziehung, die wahren Freunde, überhaupt das Leben im Hier und Jetzt – und all das durchbrochen, zersetzt von immer wiederkehrenden Ahnungen, dass man eben dieses Leben nicht in der Hand hält, halten darf. Dass es Geschenk ist, unverdient, jeden Tag neu.  

Lernen kann ich als Seelsorger viel von solchen „Lebemeistern“. Gewiss wird nicht jedem Patienten das Bearbeiten des „kleinen Todes“ als notwendige Voraussetzung für einen Neu­anfang glücken. Zumindest nicht so, wie ich es mir als Seelsorgender zuweilen gerne ausdenke. Natürlich werden Verlusterfahrungen bleiben, zuweilen auch Schuldzuweisungen. Aber etwas kann ich immer wieder erfahren, existentiell durchbuchstabiert – vergleichbar den Worten, die Meister Eckhart zugeschrieben werden: „Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gegenübersteht, die notwendigste Tat – immer die Liebe.“  

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Pfarrer
Dr. Dieter Eckmann (kath.)